Fahrlässige Tötung bei Amoklauf von Winnenden

Fahrlässige Tötung bei Amoklauf von Winnenden

BGH 1 StR 359/11 (22.03.2012)

Der Angeklagte ist der Vater des Amokläufers von Winnenden. Dieser hatte am 11.03.2009 bei einem Amoklauf in der Schule und der anschließenden Flucht 15 Personen erschossen und 14 weitere Personen verletzt. Die Tatwaffe und die Munition für den Amoklauf stammten aus dem Bestand des Angeklagten, der Sportschütze ist. Zwischen Herbst 2008 und dem 11.03.2009 nahm sein Sohn insgesamt 285 Schuss Munition an sich. Diese hatte der Angeklagte unverschlossen an unterschiedlichen Stellen in der Wohnung aufbewahrt. Weiterhin wurde dem Angeklagten von seinem Sohn eine Pistole entwendet. Diese verwahrte der Angeklagte (aus Angst vor Einbrechern) häufig unverschlossen im Schlafzimmerschrank.

Der Sohn des Angeklagten war psychisch auffällig. Seit 2004 hatte er sich zum Einzelgänger entwickelt. Er hatte schlechte Schulnoten und litt unter Stimmungsschwankungen. Am Computer spielte er häufig Spiele, bei denen er virtuelle Personen erschoss. In einer durchgeführten ambulanten psychosomatischen Behandlung äußerte er (Fremd-) Tötungsphantasien, was auch der Angeklagte wusste. Obgleich seitens der Klinik die Fortsetzung der Behandlung empfohlen wurde, setzten der Angeklagte und seine Frau sich über diese Empfehlung hinweg, weil ihr Sohn die Behandlung nicht wollte. Der Angeklagte ermöglichte seinem Sohn Schießübungen im Schützenverein.

Noch am Tag des Amoklaufes stand die Zeugin, die ehrenamtlich als Krisenbetreuerin bei einer Hilfsorganisation arbeitet, der Familie zur Seite. Sämtliche Polizeikräfte für diese Aufgabe waren mit der Betreuung der Tatopfer und deren Angehörigen beschäftigt. Zur Familie des Angeklagten entstand für die Zeugin ein Vertrauensverhältnis. Sie war auch im Folgezeitraum auf Honorarbasis für die Familie tätig.

Am 11.11.2010 gab die Zeugin in der Hauptverhandlung an, der Angeklagte sei 2008 über die Tötungsphantasien seines Sohnes unterrichtet worden. Das Gericht, die Staatsanwaltschaft und einige Vertreter der Nebenklage konnten die Zeugin dann befragen. Dem Verteidiger des Angeklagten wurde das Fragerecht noch nicht erteilt. In der Fortsetzung der Hauptverhandlung am 23.11.2010 verlas die Zeugin eine schriftliche Erklärung, nach der sie erst im August 2009 durch ein Sachverständigengutachten von den Tötungsphantasien des Sohnes des Angeklagten erfahren habe.

Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen des Verdachts der versuchten Strafvereitelung gegen die Zeugin ein. Daraufhin wurde der Zeugin nach Belehrung durch das Gericht ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht eingeräumt. Zu Beginn der weiteren Vernehmung an einem folgenden Hauptverhandlungstag widerrief die Zeugin ihre Angaben der schriftlichen Erklärung und bestätigte ihre Angaben vom 10.11.2010. Unter Berufung auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht verweigerte sie weitere Angaben. Die Verteidiger des Angeklagten widersprachen der Verwertung der Angaben der Zeugin, weil sie keine Gelegenheit gehabt haben, das ihnen zustehende Fragerecht auszuüben.

Das Gericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung in 15 tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in 14 tateinheitlichen Fällen sowie wegen weiterer Straftaten (Verstöße gegen das Waffengesetz) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 9 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Der Bundesgerichtshof als Revisionsgericht hob das Urteil mit einem Teil der Feststellungen zum Sachverhalt auf und verwies das Verfahren an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurück. Die Verteidigung hatte keine Möglichkeit, das ihr zustehende Fragerecht gegenüber der Zeugin auszuüben. Die Zeugin hätte die weitere Aussage nicht verweigern dürfen, weil ihr kein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zustand. Ein solches Auskunftsverweigerungsrecht ergibt sich auch nicht aus der Aussage der Zeugin in Gestalt der Verlesung der schriftlichen Erklärung vom 12.11.2010. Grundsätzlich hat ein Zeuge ein Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO), wenn er sich durch eine wahrheitsgemäße (vollständige) Aussage in die Gefahr begibt, sich selbst wegen einer Straftat zu belasten. In einem solchen Fall muss ein Zeuge nicht auf die Fragen antworten, deren Beantwortung dazu führt, dass er sich selbst belastet. Diese Situation lag hier aber nicht vor. Denn Straftaten, die durch die Aussage selbst erst begangen werden, können sein solches Auskunftsverweigerungsrecht nicht begründen. Hier hat sich die Zeugin aber erst durch ihre Aussage in der Hauptverhandlung am 23.10.2010 einer Straftat (versuchte Strafvereitelung) verdächtig gemacht. Der Versuch der Strafvereitelung beginnt auch erst mit dem Verlesen der Aussage. Das Verfassen des vorzulesenden Textes ist eine straflose Vorbereitungshandlung.

Die Zeugin hatte auch kein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 StPO, weil sie nicht zu den dort aufgezählten Berufsgruppen gehört. Ein solches Zeugnisverweigerungsrecht haben beispielsweise Ärzte, Anwälte und Seelsorger. Nach der Wertung des Gesetzes hat aber nicht jeder Berater dieses Zeugnisverweigerungsrecht. Auch durch eine extensive Auslegung des Gesetzes lässt sich für die Zeugin hier kein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 StPO konstruieren.