Schweigepflicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung

Schweigepflicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung

KG 20 U 19/12 (27.06.2013)

In diesem Urteil geht es darum, ob Ärzte bei einem Verdacht auf Kindesmisshandlung ihre Schweigepflicht brechen und Anzeige erstatten dürfen. Auch wenn hier ein Urteil eines Zivilgerichts, das über einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz zu entscheiden hatte, vorliegt, ist diese Entscheidung auch auf das Strafrecht übertragbar.

Kläger sind ein Kind (Jahrgang 2006) und dessen Mutter. Die Klage richtet sich gegen den Betreiber eines Krankenhauses. Die Mutter brachte das Kind wegen eines Krampfanfalls in die Notaufnahme. Dort wurden eine beidseitige subdurale Blutung und Netzhautablösungen beidseits festgestellt. Mitarbeiter des Krankenhauses äußersten gegenüber den Eltern, dass der Verdacht auf Kindesmisshandlung besteht (“Schütteltrauma“). Die Eltern stritten das ab. Mitarbeiter des Krankenhauses teilten ihren Verdacht dem Landeskriminalamt und dem Jugendamt mit, dass Verletzungen vorliegen, die für ein Schütteltrauma typisch sind. Ein Tatverdacht gegen die Eltern wurde nicht geäußert. Die Eltern wurden vorläufig festgenommen und das Kind zeitweilig bei Pflegeeltern untergebracht. Das Ermittlungsverfahren gegen die Eltern wurde eingestellt, da kein hinreichender Tatverdacht vorlag. Es konnte nicht hinreichend sicher festgestellt werden, wer dem Kind die Verletzungen zugefügt hatte. Die Mutter und das Kind verlangten daraufhin Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 und 15.000 Euro. Das Landgericht Berlin war der Auffassung, dass kein Anspruch auf Schmerzensgeld besteht und wies die Klage ab. Auch das Kammergericht bestätigte in der Berufung diese Rechtsansicht.

Die entscheidende Frage, auch im Hinblick auf die Verletzung der Schweigepflicht und die damit verbundene mögliche Strafbarkeit, ist, ob die Durchbrechung der Schweigepflicht gemäß § 34 StGB durch Notstand gerechtfertigt war.

Beide Gerichte waren der Auffassung, dass die Voraussetzungen eines Notstands vorlagen. Es sei nicht erforderlich, dass der bestehende Verdacht durch die Ärzte ausermittelt wird. Ausreichend sei ein hinreichender Verdacht. Diese bestehe schon dann, wenn die Verletzungen typischerweise durch ein Misshandlungsgeschehen entstehen. Daher sei auch ein hinreichender Tatverdacht, der im späteren Strafverfahren eine Anklage rechtfertigt, nicht erforderlich.

Die strafrechtliche Beurteilung des Verletzungsgeschehens ist erstens nicht relevant und kann zweitens auch nicht von den Ärzten erwartet werden. Im Rahmen des Notstands gemäß § 34 StGB geht es darum, dass die Verletzung der Schweigepflicht gerechtfertigt ist, wenn die Gefahr von Wiederholungen besteht. Bei derart schweren Verletzungen, wie sie hier vorlagen, liegt Wiederholungsgefahr nach Auffassung des Gerichts auf der Hand. In einem Handbuch, das vom Bundesfamilienministerium gefördert wird, gibt es die Empfehlung, die Polizei nur einzuschalten, wenn die Allgemeinen Sozialen Dienste nicht mehr ausreichen. Dieser Hinweis hat selbstverständlich keinen Rechtscharakter, so dass ein Verstoß unbeachtlich ist.

Hinweis für die Praxis:

Wenn Verletzungen vorliegen, die absolut misshandlungstypisch sind, ist eine Durchbrechung der Schweigepflicht gemäß § 34 StGB gerechtfertigt. Dies gilt dann nicht nur für Ärzte, sondern ist auf alle beteiligten Berufsgruppen wie beispielsweise Rettungsdienst und Pflegepersonal zu erweitern. Wenn die Diagnose von Misshandlungsverletzungen jedoch auf einem Sorgfaltspflichtverstoß basiert, ist die Durchbrechung der Schweigepflicht nicht gerechtfertigt und damit strafbar. In dem vom Landgericht München I hierzu entschiedenen Fall hatte sich das Kind bei Spielen Hämatome zugezogen, weil es gegen einen Türrahmen gestürzt war. Es wird also durchaus verlangt, zwischen Misshandlungsverletzungen und Spielunfällen zu unterscheiden!