Auf dieser Seite finden Sie Entscheidungen zum Thema Pflichtverteidigung.
Hinweise zur Pflichtverteidigung:
In Fällen der notwendigen Verteidigung wird einem Beschuldigten, sofern er noch keinen Anwalt hat, von Amts wegen ein Pflichtverteidiger bestellt.
Als Strafverteidiger und Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Strafrecht übernehme ich diese Aufgabe gern und vertrete meine Mandaten als Pflichtverteidiger mit dem gleichen Engagement, mit dem ich Wahlmandanten verteidige. Weitere Erläuterungen zur Pflichtverteidigung finden Sie unter dem folgenden Link.
Pflichtverteidigung bei Verständigungsgesprächen („Deal“)
OLG Naumburg 2 Ss 151/13 (04.12.2013)
Notwendige Verteidigung bei Berufung der Staatsanwaltschaft
KG 161 Ss 173/13 (12.08.2013)
Effektive Verteidigung durch Ersatzverteidiger in der Hauptverhandlung
BGH 2 StR 113/13 (20.06.2013)
Notwendige Verteidigung bei Widerruf einer Bewährungsstrafe
OLG Celle 32 Ss 52/12 (30.05.2012)
Abwesenheit des Pflichtverteidigers in der Hauptverhandlung
BGH 3 StR 24/10 (13.04.2010)
Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Blutentnahme beim Beschuldigten
OLG Brandenburg 1 Ws 7/09 (26.01.2009)
Bestellung eines Pflichtverteidigers bei schwieriger Rechtslage
KG 2 Ws 363/08 (30.07.2008)
Pflichtverteidiger, wenn Nebenklage durch Rechtsanwalt vertreten ist
OLG München 5 St RR 129/05 (13.12.2005)
Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn Widerruf der Bewährung droht
OLG Brandenburg 1 Ss 65/04 (09.08.2004)
Pflichtverteidiger für einen Jugendlichen bei Anklage wegen Diebstahls
Landgericht Bremen 15 Qs 329/03 (22.10.2003)
Pflichtverteidiger für einen Angeklagten, der unter Betreuung steht
OLG Hamm 2 Ss 439/03 (14.08.2003)
Pflichtverteidiger im Strafverfahren gegen Jugendlichen
OLG Hamm 3 Ss 1163/02 (14.05.2003)
Pflichtverteidigung bei Verständigungsgesprächen („Deal“)
OLG Naumburg 2 Ss 151/13 (04.12.2013)
In diesem Verfahren gab es mehrere Angeklagte. Einer der Angeklagten wurde nicht von einem Rechtsanwalt als Verteidiger vertreten. Das Urteil des Amtsgerichts beruhte auf einer sogenannten „Verständigung im Strafverfahren“ (auch als „Deal“ bezeichnet). Die Beweiswürdigung in den Urteilsgründen deckte sich nicht mit den Angaben, die der Angeklagte laut Hauptverhandlungsprotokoll gemacht hatte. Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten wegen gemeinschaftlichen versuchten Diebstahls. Nach den Angaben, die der Angeklagte laut Protokoll gemacht hat, lag ein Rücktritt vom Versuch vor. Die Sprungrevision des Angeklagten hatte Erfolg, weil der Angeklagte nicht von einem Rechtsanwalt vertreten wurde, obwohl ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag.
Ein Fall einer notwendigen Verteidigung liegt beispielsweise dann vor, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig ist. Hier lag bereits eine notwendige Verteidigung vor, weil Verständigungsgespräche („Deal“) stattgefunden haben. Denn diese Materie ist in der Anwendung auch bei Juristen fehleranfällig. Solche Verständigungsgespräche führen regelmäßig dazu, dass eine notwendige Verteidigung vorliegt und ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, wenn der Angeklagte noch keinen Verteidiger hat.
Notwendige Verteidigung bei Berufung der Staatsanwaltschaft
KG 161 Ss 173/13 (12.08.2013)
Der Angeklagte wurde vom Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil Berufung ein. Die Berufung war auf die Höhe der Strafe beschränkt. Der Rechtsanwalt der Angeklagten verlangte die Beiordnung zum Pflichtverteidiger für die Berufung. Das Berufungsgericht lehnte diese Beiordnung ab. In der Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht war kein Rechtsanwalt als Verteidiger des Angeklagten anwesend.
Die Revision hatte Erfolg, weil die Hauptverhandlung in Abwesenheit eines Verteidigers stattgefunden hat, obwohl die Anwesenheit eines Verteidigers erforderlich gewesen wäre.
Das Gericht führt dazu aus: „Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Kammergerichts, dass bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr in der Regel die Voraussetzungen von § 140 Abs. 2 StPO gegeben sind.“ Der § 140 Abs. 2 StPO regelt, dass bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt und der Angeklagte daher durch einen Rechtsanwalt vertreten werden muss. In der Berufung, auch wenn diese auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt ist, liegt eine Schwierigkeit der Rechtslage nahe. Auch wenn die Staatsanwaltschaft das Ziel verfolgte, dass die Freiheitsstrafe nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt wird, wäre einer Erhöhung der Strafe von bisher zehn Monaten durch das Berufungsgericht möglich, so dass der Orientierungswert von einem Jahr erreicht werden kann und sich hieraus die Notwendigkeit der Beiordnung ergibt. Die Tatsache, dass der Angeklagte bereits gerichtserfahren ist, macht die Bestellung eines Anwalts zum Pflichtverteidiger nicht unnötig.
Effektive Verteidigung durch Ersatzverteidiger in der Hauptverhandlung
BGH 2 StR 113/13 (20.06.2013)
Der Angeklagte wurde wegen Beihilfe zur Unterschlagung vom Landgericht Kassel zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Seine Revision war wegen einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge erfolgreich und führte zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache.
Dem Angeklagten war ein Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet. Am vierten Hauptverhandlungstag erschien der Pflichtverteidiger nicht, da er sich in ärztliche Behandlung begeben musste. Es war davon auszugehen, dass er zwei Stunden später an der Verhandlung teilnehmen könne. Daher wurde die Hauptverhandlung für etwa zwei Stunden unterbrochen. In dieser Zeit wurde dem Gericht mitgeteilt, dass der Pflichtverteidiger an diesem Tag nicht mehr an der Hauptverhandlung teilnehmen kann.
An diesem Tag sollte – aufgrund eines Beweisantrages des Pflichtverteidigers – ein Zeuge mit ausländischem Wohnsitz vernommen werden. Die Strafkammer wollte dem Zeugen eine erneute Anreise ersparen. Daher sorgte das Gericht dafür, dass der Angeklagte durch einen anderen Rechtsanwalt vertreten wurde und ordnete diesen als Pflichtverteidiger bei. Dieser Verteidiger konnte ein kurzes Gespräch mit dem Angeklagten führen, nahm aber keine Einsicht in die Ermittlungsakten. Auf Antrag des Verteidigers eines Mitangeklagten wurde die Vernehmung des Zeugen wörtlich protokolliert. Der kurzfristig eingesprungene Verteidiger stellte dem Zeugen keine Fragen.
Der Angeklagte wurde an den folgenden Verhandlungstagen wieder vom ursprünglichen Verteidiger verteidigt. Er beantragte die erneute Vernehmung des Zeugen, der am vierten Verhandlungstag in Anwesenheit des „Ersatzverteidigers“ vernommen wurde. Der Antrag wurde von der Strafkammer abgelehnt.
In der Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des ursprünglichen Pflichtverteidigers liegt eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung. Der Angeklagte ist an diesem Tag zwar nicht unverteidigt gewesen (im Falle einer notwendigen Verteidigung hätte darin ein Revisionsgrund gelegen). Das Gericht hatte aber die Möglichkeit, die Hauptverhandlung auszusetzen, also an dem Termin ohne den ursprünglichen Pflichtverteidiger nicht weiter zu verhandeln, oder einen anderen Rechtsanwalt zum Pflichtverteidiger zu bestellen. Die Entscheidung steht im Ermessen des Gerichtes. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass der eingearbeitete und vertraute Verteidiger bei kurzfristiger Krankheit im Regelfall zu erhalten und die Hauptverhandlung daher auszusetzen ist. Die Regelung des § 145 StPO diene einer effektiven und angemessenen Strafverteidigung und nicht der Verfahrenssicherung.
Nach Auffassung der Rechtsprechung steht es im freien Ermessen des Gerichtes, beim Ausbleiben des bisherigen Pflichtverteidigers einen neuen Verteidiger zu bestellen oder die Verhandlung auszusetzten oder zu unterbrechen, um eine weitere Verteidigung durch den bisherigen Verteidiger zu ermöglichen. Wenn der „Ersatzverteidiger“ aus seiner Sicht eine hinreichende Einarbeitungszeit hatte, kann das Gericht dies nicht überprüfen. Wenn der Verteidiger aber objektiv nicht genug Zeit für die Einarbeitung hatte oder sich aus sonstigen Anhaltspunkten ergibt, dass die Möglichkeit einer effektiven Verteidigung nicht gewährleistet ist, kann die Fürsorgepflicht des Gerichtes es gebieten, die Verhandlung auszusetzen oder zu unterbrechen.
Dadurch, dass in diesem Fall die Beiordnung eines anderen Verteidigers erfolgte, ist die Verteidigung erheblich einschränkt. In der Kürze der Zeit konnte sich der Verteidiger nicht auf den Stand des Verfahrens bringen.
Für die Revision ist es unerheblich, dass der neue Verteidiger selbst nicht den Antrag auf Unterbrechung des Verfahrens gestellt hat. Es wurde nur ein Verteidiger gesucht, der die Vertretung übernimmt, um die Vernehmung des Zeugen zu ermöglichen. Ein anderer Verteidiger wäre nicht beigeordnet worden. Das Gericht hätte erkennen müssen, dass der Verteidiger nur formal die Verteidigung übernimmt, sich an der Sache aber nicht weiter beteiligt.
Notwendige Verteidigung bei Widerruf einer Bewährungsstrafe
OLG Celle 32 Ss 52/12 (30.05.2012)
Die Angeklagte wurde vom Amtsgericht Hannover wegen Beförderungserschleichung („Schwarzfahren“) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. In diesem Verfahren wurde Sie nicht von einem Rechtsanwalt als Verteidiger vertreten. Gegen dieses Urteil legte Sie Berufung ein. Auch das Landgericht Hannover verurteilte sie wegen Beförderungserschleichung zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat ohne Bewährung. Auch in diesem Verfahren hatte sie keinen Rechtsanwalt als Verteidiger. Das Landgericht setzte die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung aus, weil es von einer negativen Sozialprognose ausging. Die Angeklagte hatte die Tat (also das Schwarzfahren) begangen, während die Bewährungszeiten aus drei unterschiedlichen Urteilen noch liefen. Falls wegen des gegenwärtigen Verfahrens die Bewährungen aus den drei Urteilen widerrufen würden, wäre eine Freiheitsstrafe von insgesamt 29 Monaten zu vollstrecken.
Die Revision der Angeklagten war erfolgreich, weil sie keinen Rechtsanwalt als Verteidiger hatte, obwohl ein Fall der notwendigen Verteidigung (§ 140 Abs. 2 StPO) vorlag. Wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt und kein Verteidiger in der Hauptverhandlung vor Gericht anwesend ist, liegt ein absoluter Revisionsgrund vor, weil eine Person fehlt, deren Anwesenheit vom Gesetz vorgeschrieben ist. Sofern die Angeklagte keinen selbstgewählten Verteidiger hat, wäre spätestens für das Berufungsverfahren die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich gewesen. Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt grundsätzlich dann vor, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr verhängt wird. Auch wenn im gegenwärtigen Verfahren nur eine sehr kurze Freiheitsstrafe drohte, ergibt sich die Notwendigkeit, einen Rechtsanwalt als Verteidiger beizuordnen, daraus, dass der Widerruf mehrerer Bewährungen drohte.
Abwesenheit des Pflichtverteidigers in der Hauptverhandlung
BGH 3 StR 24/10 (13.04.2010)
Das Landgericht Hildesheim hatte den Angeklagten wegen Betruges in 19 Fällen, versuchten Betruges, Beihilfe zum Betrug in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zur Urkundenfälschung, Urkundenfälschung in fünf Fällen und Beihilfe zur Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten führte zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung an das Landgericht Hildesheim.
In der Hauptverhandlung bestellte das Gericht zwei Anwälte zu Verteidigern des Angeklagten. An dem Hauptverhandlungstermin, in dem die Schlussvorträge (Plädoyers) gehalten werden sollten, waren beide Rechtsanwälte nicht anwesend. Dafür kam ein anderer Rechtsanwalt für den Angeklagten. Er gab aber an, nicht als Verteidiger für den Angeklagten auftreten zu können und mit dem Prozessstoff nicht vertraut zu sein. Er konnte nicht als Vertreter des Pflichtverteidigers auftreten, da eine Beiordnung zum Pflichtverteidiger immer auf den einzelnen Rechtsanwalt beschränkt ist. Der Angeklagte konnte ihn auch nicht stillschweigend zum Wahlverteidiger bestimmen.
Das Landgericht beschloss daraufhin die Trennung der Verfahren gegen den Angeklagten und gegen den Mitangeklagten. Für das Verfahren wurde ein Fortsetzungstermin für die Hauptverhandlung bestimmt und das Verfahren gegen die Mitangeklagten wurde fortgesetzt; dessen Verteidiger hielt den Schlussvortrag und das Urteil wurde verkündet.
Die Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge Erfolg, denn sein Verteidiger war bei der Entscheidung über die Trennung der Verfahren nicht anwesend, obwohl die Anwesenheit des Verteidigers zwingend erforderlich gewesen wäre.
Die Anwesenheit des Rechtsanwalts, der als Vertreter des beigeordneten Verteidigers auftrat, reicht nicht aus. Das Erfordernis der Anwesenheit des Verteidigers ergibt sich daraus, dass die Entscheidung über die Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung war. Eine Abtrennung des Verfahrens gegen einen Angeklagten verändert beispielsweise auch die Möglichkeit eines Angeklagten, sich mit den Einlassungen und dem prozessualen Verhalten eines anderen Angeklagten auseinanderzusetzen. Wie auch die Verfahrenstrennung sind daher der Schlussvortrag des Verteidigers und das letzte Wort des Mitangeklagten wesentliche Teile der Hauptverhandlung. Ob dies auch ohne denkbaren Bezug der Taten der Mitangeklagten gilt, war hier ohne Belang, dem Mitangeklagten wurden Urkundenfälschungen vorgeworfen, zu denen dem Angeklagten Anstiftung vorgeworfen wurde.
Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Blutentnahme beim Beschuldigten
OLG Brandenburg 1 Ws 7/09 (26.01.2009)
In diesem Fall hatte das Brandenburgische Oberlandesgericht darüber zu entscheiden, ob die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich war. Bei dem Angeklagten war eine Blutentnahme durchgeführt worden, die von einem Polizeibeamten angeordnet worden war. Das Gericht hat einem Angeklagten einen Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beizuordnen, weil es das Merkmal der schwierigen Rechtslage vorliegt und der Angeklagte nicht durch einen Wahlverteidiger vertreten ist. Wenn die Blutentnahme, für die im Regelfall ein richterlicher Beschluss erforderlich ist, wegen Gefahr im Verzug von einem Polizeibeamten angeordnet wird, stellt sich die Frage, ob ein Verwertungsverbot vorliegt. Dazu bedarf es zunächst der Feststellung, ob die Voraussetzungen von Gefahr im Verzug zutreffend bejaht wurden. Wenn das nicht der Fall ist, stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse der Blutprobe verwertet werden dürfen oder ob ein Verwertungsverbot besteht. Ferner ergibt sich die Notwendigkeit, dass der Verwertung der Ergebnisse widersprochen wird. In diesem Zusammenhang gibt es eine Mehrzahl von Fragen, die von der Rechtsprechung noch nicht abschließend und einheitlich geklärt wurden. Dies begründet eine schwierige Rechtslage, die die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich macht. Da der Angeklagte nicht durch einen Wahlverteidiger vertreten war, liegt ein Fall der notwenigen Verteidigung vor.
Bestellung eines Pflichtverteidigers bei schwieriger Rechtslage
KG 2 Ws 363/08 (30.07.2008)
In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht wurde der Angeklagte von einem Rechtsanwalt (Wahlverteidiger) vertreten. Der Angeklagte wurde verurteilt, weil er das nichtöffentlich gesprochene Wort unbefugt aufgezeichnet hatte (§ 201 StGB). Das Amtsgericht hatte das Vorliegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums verneint, dafür aber einen vermeidbaren Verbotsirrtum angenommen. Der Angeklagte ging in Berufung. In der Berufung beantragte der Rechtsanwalt, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen. Der Vorsitzende der Berufungskammer lehnte das ab, die Beschwerde dagegen hatte Erfolg.
Weil eine schwierige Rechtslage vorlag, war der Rechtsanwalt auf dessen Antrag als Pflichtverteidiger beizuordnen. Hier geht es um die Unterscheidung zwischen Erlaubnistatbestandsirrtum und Verbotsirrtum. Für das Verfahren ist von großer Bedeutung, welcher Irrtum vorliegt, weil einer zum Freispruch und einer zur Verurteilung geführt hätte.
Es kommt entscheidend darauf an, ob das Merkmal „unbefugt“ ein Tatbestandsmerkmal ist oder ob es der Hinweis auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe ist. Dieser Streitstand ist nicht einfach, so dass eine schwierige Rechtslage vorliegt. In dieser Situation ist die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO erforderlich.
Pflichtverteidiger, wenn Nebenklage durch Rechtsanwalt vertreten ist
OLG München 5 St RR 129/05 (13.12.2005)
Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahr Freiheitsstrafe. Der Angeklagte, der nicht von einem Rechtsanwalt vertreten wurde, erklärte zunächst Rechtsmittelverzicht, legte dann aber Revision ein und machte geltend, es habe ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen. Der Verletzte der Körperverletzung war als Nebenkläger am Strafverfahren beteiligt und wurde von einem Rechtsanwalt vertreten. Nach dem Anschluss der Nebenklage vor der Hauptverhandlung beantragte der Angeklagte die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Über den Beiordnungsantrag hat das Gericht nicht entschieden.
Grundsätzlich kann auch ein Rechtsmittelverzicht durch einen Angeklagten wirksam sein, hier ist der Verzicht jedoch unwirksam. Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) hatte bereits entschieden, dass ein Verzicht unwirksam ist, wenn sich der Angeklagte nicht mit seinem Verteidiger besprechen kann. Wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt und der Angeklagte keinen Anwalt (Pflichtverteidiger oder Wahlverteidiger) hat, gilt dies ebenso. Im Fall der notwendigen Verteidigung entspricht das der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung. In neuerer Rechtsprechung werden weitere Umstände gefordert, die über das bloße Fehlen eines Pflichtverteidigers bei notwendiger Verteidigung hinausgehen.
Hier lag ein Fall der notwendigen Verteidigung vor. Dies ergibt sich zwar nicht aus der Schwere der Tat, die sich wesentlich aus den zu erwartenden Rechtsfolgen ergibt. Eine starre Grenze für die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Verteidigers gibt es nicht. Aufgrund der Straferwartung war die Beiordnung eines Pflichtverteidigers jedoch erwägenswert.
Aufgrund der Tatsache, dass auch die Nebenklage durch einen Rechtsanwalt vertreten war, ergab sich die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers für den Angeklagten. Dies ergibt sich aus den Grundsätzen der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens.
Da die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich war und der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht von einem Rechtsanwalt vertreten wurde, liegt der absolute Revisionsgrund gemäß § 338 Nr. 5 StPO vor.
Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn Widerruf der Bewährung droht
OLG Brandenburg 1 Ss 65/04 (09.08.2004)
Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten, der in der Hauptverhandlung nicht von einem Strafverteidiger vertreten wurde, wegen Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr vor dieser Tat wurde der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Revision des Angeklagten ist begründet, weil ihm kein Verteidiger beigeordnet wurde, obwohl ein Fall notwendiger Verteidigung vorlag.
Da kein Verteidiger in der Hauptverhandlung anwesend war, wurde diese in Abwesenheit einer Person durchgeführt, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt. Die Notwendigkeit der Mitwirkung eines Verteidigers ergibt sich aus § 140 Abs. 2 StPO. Ab einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von einem Jahr ist die Mitwirkung zumindest dann erforderlich, wenn die Gefahr besteht, dass die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird. Darauf kommt es hier aber nicht an, weil der Widerruf der Bewährung aus dem ersten Urteil drohte. Allein schon aus diesem Grund lag der Fall einer notwendigen Verteidigung vor.
Pflichtverteidiger für einen Jugendlichen bei Anklage wegen Diebstahls
Landgericht Bremen 15 Qs 329/03 (22.10.2003)
Im Verfahren gegen den 16-jährigen Angeklagten, der im Strafverfahren einen Dolmetscher benötigt hätte, erschien er bei der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht mit einem Rechtsanwalt als Verteidiger. Der Rechtsanwalt beantragte die Beiordnung als Pflichtverteidiger. Das Gericht lehnte per Beschluss die Pflichtverteidigerbestellung ab. Die Jugendgerichtshilfe teilte dem Gericht vor der Hauptverhandlung mit, sie werde „entgegen der üblichen Gepflogenheiten“ nicht teilnehmen. Der Angeklagte bestreitet die Tat. Ihm wird vorgeworfen, mit einem Zeugen über den Verkauf eines Gramms Heroin einig gewesen zu sein. Dann sei er mit einem Pass und den darin liegenden 150 Euro weggelaufen, ohne zuvor die Betäubungsmittel übergeben zu haben.
Die Beschwerde des Verteidigers richtet sich gegen den Beschluss, mit dem die Beiordnung als Pflichtverteidiger abgelehnt wurde. Die Beschwerde beim Landgericht war insoweit erfolgreich.
Dem Angeklagten war gemäß § 68 Nr. 1 JGG in Verbindung mit § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO ein Pflichtverteidiger beizuordnen. Da sich der Angeklagte bereits für einen Rechtsanwalt entschieden hatte (dieser begleitete ihn in der Hauptverhandlung), war dieser Rechtsanwalt zum Pflichtverteidiger des Angeklagten zu bestellen.
Die Regelung über die Pflichtverteidigung bei § 140 StPO ist bei Jugendlichen extensiv auszulegen. Aufgrund der mangelnden Verteidigungsfähigkeit und großen Bedeutung des Strafverfahrens bei Jugendlichen ist eher der Verzicht auf eine Beiordnung zu begründen als die Beiordnung eines Verteidigers. Auch schon bei informeller Erledigung des Verfahrens kann eine Beiordnung eines Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger geboten sein. Da Jugendliche zu betont sicherem Auftreten neigen, werden die Handlungskompetenz und damit auch die Verteidigungskompetenz überschätzt.
Die Verteidigung des Jugendlichen gehört nicht zu den Aufgaben der Jugendgerichtshilfe. Selbst wenn ihr „Ersatzverteidigerfunktion“ zukommen sollte, macht das eine Pflichtverteidigung in diesem Fall nicht entbehrlich, da die Jugendgerichtshilfe nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen hat. Der Gesetzgeber hat Fälle, in denen er die Anwesenheit der Jugendgerichtshilfe für verzichtbar hält, geregelt. Das Ausbleiben der Jugendgerichtshilfe wird auch als ein Fall der notwendigen Verteidigung angesehen, so dass die Anwesenheit eines Rechtsanwaltes (als Wahlverteidiger oder Pflichtverteidiger) notwendig ist.
Pflichtverteidiger für einen Angeklagten, der unter Betreuung steht
OLG Hamm 2 Ss 439/03 (14.08.2003)
Der 80 Jahre alte Angeklagte wurde vom Amtsgericht wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort („Fahrerflucht“) zu einer Geldstrafe verurteilt. Er stand zu dem Zeitpunkt etwa seit sieben Jahren unter Betreuung für Prozess- und Behördenangelegenheiten. Der Angeklagte wurde in der Hauptverhandlung nicht von einem Rechtsanwalt als Wahlverteidiger oder Pflichtverteidiger vertreten. Auf die Sprungrevision des Angeklagten wurde das Verfahren an das Amtsgericht zurückverwiesen. Die Revision ist unter anderem deswegen begründet, weil bei der Hauptverhandlung kein Verteidiger anwesend war, obwohl ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag. Die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten und damit die Notwendigkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers richten sich nach dessen geistigen Fähigkeiten und sonstigen Umständen des Falls. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist, wie hier, schon dann erforderlich, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung Zweifel bestehen und kein Wahlverteidiger beauftragt wurde. Auf die Nachfrage des Betreuers, ob er an der Hauptverhandlung teilnehmen müsse, hätte der Richter dem Angeklagten einen Verteidiger beiordnen müssen.
Pflichtverteidiger im Strafverfahren gegen Jugendlichen
OLG Hamm 3 Ss 1163/02 (14.05.2003)
Der Angeklagte wurde vom Jugendschöffengericht wegen Bedrohung unter Einbeziehung anderer Entscheidungen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Der Angeklagte wurde nicht von einem Rechtsanwalt als Verteidiger vertreten. Im Verfahren wurden mehrere Zeugen vernommen. Der Angeklagte hatte keine Einsicht in die Ermittlungsakten. Er war zuvor zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt worden, von der er bereits ein Jahr und 8 Monate verbüßt hatte. Er legte Revision ein mit der Begründung, dass ein Fall notwendiger Verteidigung vorgelegen habe und er nicht von einem Rechtsanwalt vertreten wurde. Das Vorliegen einer schwierigen Beweislage konnte er nicht darlegen. Seine Revision hatte keinen Erfolg.
Gemäß § 68 Nr. 1 JGG in Verbindung mit § 140 Abs. 2 StPO ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn der Angeklagte keinen Wahlverteidiger hat und die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten ist oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann.
Die Schwere der Tat beurteilt sich insbesondere nach den zu erwartenden Rechtsfolgen. Dabei ist unerheblich, ob sich die Rechtsfolge aus der abzuurteilenden Tat oder aus einer zu bildenden Gesamtstrafe ergibt. Ab einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, wird die Notwendigkeit einer Verteidigung durch einen Rechtsanwalt bejaht. Auch im Jugendstrafverfahren ist diese Erwartung für eine Pflichtverteidigerbestellung zu Grunde zu legen. Das Revisionsgericht ist aber nicht der Auffassung, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zwingend erforderlich ist, wenn eine Jugendstrafe verhängt wird.
Bei der Entscheidung über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist im Jugendstrafrecht nicht nur die Höhe der zu erwartenden Strafe, sondern auch die Verteidigungsfähigkeit des Jugendlichen zu berücksichtigen.
Auch dadurch, dass die Anklage beim Jugendschöffengericht erfolgte, ergibt sich nicht die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Während ein Erwachsener vor dem Schöffengericht angeklagt wird, wenn die zu erwartenden Freiheitsstrafe bei einem Vergehen bei über zwei Jahren liegt, erfolgt die Anklage beim Jugendschöffengericht bereits dann, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe zu erwarten ist. Diese beträgt als Minimum 6 Monate, so dass durchaus Jugendstrafen und damit Anklagen beim Jugendschöffengericht möglich sind, ohne dass wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich ist.
Entscheidend ist in dem hier vorliegenden Fall, dass der Angeklagte bereits ein Jahr und acht Monate der Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verbüßt hatte. In Betracht kam lediglich eine Strafe unter Einbeziehung dieser Jugendstrafe, die diese um wenige Monate übersteigt. Aufgrund dieser geringen weiteren Freiheitsentziehung ist das Gericht der Auffassung, dass kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt und daher kein Pflichtverteidiger zu bestellen ist.